Warum stagniert bei Arthrose der Knorpelnachschub? Wie lassen sich Zellen dazu bringen, Knorpel wieder auf- statt abzubauen? Über diese Fragen spricht Julia Bidder, Chefredakteurin der Mitgliederzeitschrift "mobil" (jetzt Mitglied werden), mit Prof. Max Löhring. Er forscht an der Berliner Charité und am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum Berlin, wo er das Pitzer-Labor für Arthroseforschung leitet.
Professor Löhning, Sie leiten seit 2015 das Pitzer-Labor für Arthroseforschung am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum in Berlin. Was genau macht Ihre Arbeitsgruppe?
Wir versuchen, die grundlegenden Prozesse zu verstehen, wie Arthrose entsteht und warum der Knorpelabbau voranschreitet. Der Lebenswandel der Knorpelzellen und ihre Aufgaben im Detail sind noch an vielen Stellen ein Rätsel. Wir versuchen, sie besser zu charakterisieren: Welche genetischen Programme sind bei ihnen aktiv? Auf welche Botenstoffe oder Signale reagieren sie? Das versuchen wir zu entschlüsseln.
Aus welchen Komponenten ist unser Gelenkknorpel aufgebaut?
Der Aufbau von Knorpel ist relativ einfach: Anders als im Knochen gibt es nur eine Art von Zellen, die Chondrozyten. Deren Name leitet sich von den griechischen Wörtern für Knorpel (Chóndros) und Zelle (Kytos) ab. Hinzu kommt die sogenannte extrazelluläre Matrix, in die diese Zellen eingebettet sind und die von ihnen gebildet wird, also das Gewebe, was wir als Knorpel wahrnehmen – sie hat den größten Anteil daran.
Die extrazelluläre Matrix besteht aus langlebigen Kollagenfasern als wichtiges strukturgebendes Eiweiß. Die Kollagenfasern sind unterschiedlich angeordnet und verleihen dem Gewebe Stabilität sowie Zug- und Reißfestigkeit. In der obersten Schicht des Gelenks liegen sie parallel zur Gelenkoberfläche.
In tieferen Schichten sind sie wie Palisaden senkrecht angeordnet. Außerdem enthält die extrazelluläre Matrix hauptsächlich kurzlebige Eiweiß-Zucker-Verbindungen, sogenannte Proteoglykane. Diese bestehen wiederum aus verschiedenen molekularen Bausteinen, darunter auch Glukosaminen. Zudem finden sich in der extrazellulären Matrix größere Mengen von Hyaluronsäure.
Was ist die Aufgabe dieser Eiweiß-Zucker-Moleküle?
Sie stellen Quervernetzungen zwischen den Kollagenfasern her und binden vor allem Wasser: Aufgrund ihrer elektrischen Ladung ziehen sie Wasser an. Deshalb funktioniert das Knorpelgewebe wie ein Schwamm: Wenn man es zusammendrückt, wird Wasser herausgepresst, bei Entlastung wird das Wasser zurückgesaugt. Knorpel besteht zu etwa 70 Prozent aus Wasser! Es gibt keine Blutgefäße im Knorpelgewebe.
Wie werden die Knorpelzellen ernährt?
Knorpelzellen sind vergleichsweise genügsam, sie brauchen zum Beispiel nur wenig Sauerstoff. Im Gelenk liegen sie relativ vereinzelt und tief im Knorpelgewebe verteilt. Ihre Nährstoffe können sie nur durch passive Verteilungsprozesse aus dem sie umgebenden Gewebe erhalten, insbesondere aus der Gelenkflüssigkeit. Deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere Gelenke viel bewegen, denn es wird nicht nur Wasser hinausgepresst und wieder eingesaugt, sondern auch lebenswichtiger Sauerstoff und Nährstoffe. Ist ein Gelenk ruhiggestellt, „verhungern“ die Knorpelzellen also geradezu.
Wie sieht die Biografie einer Knorpelzelle aus, wie lange lebt sie?
Knorpelzellen werden bereits in unserer Embryonalentwicklung angelegt: Aus Stammzellen bilden sich zunächst teilungsfähige sogenannte Chondroblasten. Deren Aufgabe ist es, die extrazelluläre Matrix und damit das eigentliche Knorpelgewebe zu bilden: Sie teilen sich, bilden aber auch die Kollagenfasern und die Eiweiß-Zucker-Verbindungen und geben sie nach außen ab. In diesem Stadium wächst der Knorpel, weshalb die Zellen sich immer weiter voneinander entfernen.
Ist der Gelenkknorpel fertig entwickelt, verlieren die Chondroblasten weitgehend ihre Fähigkeit, neue Zellen zu bilden. Aus ihnen werden Chrondrozyten, die allein oder mit zwei oder drei Knorpelzellen in Gesellschaft in Höhlen im Knorpel verbleiben. Sie bleiben ein Leben lang erhalten und werden kaum weiter nachgebildet oder ersetzt.
Wird Knorpel – wie Knochengewebe – auch ständig ab- und neu aufgebaut?
Neuere Studien haben ergeben, dass die Eiweiß-Zucker-Verbindungen tatsächlich ständig erneuert werden. Die stabilen, dauerhaften Kollagenfasern dagegen werden kaum erneuert. Damit unterscheidet sich der Knorpel grundsätzlich vom Knochen. Das ist Teil des Problems, warum es zu Arthrose kommt: Die Kollagenfasern im Knorpel müssen im besten Fall ein Leben lang halten.
Was ist die Aufgabe der Knorpelzellen?
Chondrozyten sind für die Erneuerung der Eiweiß-Zucker-Verbindungen und in kleinerem Umfang auch des Kollagens verantwortlich. Das passiert ständig – die Zellen bilden diese Stoffe und geben sie ins umgebende Gewebe ab. Aber die komplexen, großen Kollagenfasern komplett zu ersetzen, überfordert sie vermutlich. Es gibt eine gewisse Regenerationsfähigkeit für kleinere Defekte oder Abrieb. Aber wenn die Schäden zu stark sind, etwa bei einer Verletzung oder bei sehr großer Belastung, übersteigt das die Fähigkeiten der Knorpelzellen, und die Gelenkzerstörung wird nicht repariert oder schreitet sogar voran.
Wird Knorpel auch aktiv abgebaut?
Das passiert tatsächlich, etwa dann, wenn sich bereits Abbauprodukte in der extrazellulären Matrix finden. Das sind molekulare Bruchstücke, wie sie nach kleineren Verletzungen oder Ähnlichem entstehen. Sie aktivieren bestimmte Alarmantennen der Knorpelzellen. Daraufhin produzieren diese die chemische Verbindung Stickstoffmonoxid und versuchen offenbar, die Knorpelschäden zu reparieren.
Leider führt dieses Alarmprogramm der Knorpelzellen aber eher zu einem Abbau des Knorpelgewebes: Die Zellen bilden verstärkt Eiweißstoffe, die die Matrix abbauen, und stellen weniger Nachschub her. Außerdem produzieren sie verstärkt Entzündungsbotenstoffe. In gewissem Umfang ist dieses Notfallprogramm wahrscheinlich sinnvoll: Die Zellen lösen beschädigtes Gewebe auf, um es durch neues, gesundes Material zu ersetzen. Wenn aber viele Knorpelzellen gleichzeitig so reagieren, tragen sie selbst zum Schaden mit bei.
Kann man an dieser Stelle mit einem gezielten Medikament eingreifen und diesen Prozess stoppen?
Die Möglichkeiten, konkret therapeutisch einzugreifen, sind zurzeit noch begrenzt. Wir haben herausgefunden, dass zumindest im Labor ein Hemmstoff von Stickstoffmonoxid den Entzündungsprozess und den weiteren Abbau von Knorpelgewebe hemmen kann. Allerdings lassen sich die alarmierten Knorpelzellen dadurch noch nicht dazu bringen, wieder vermehrt Kollagen und Eiweiß-Zucker-Verbindungen zu bilden.
Welche Komponenten dafür nötig sind, müssen wir noch herausfinden. Hinzu kommt, dass man die Knorpelzellen mit dem künftigen Wirkstoff erreichen können muss, ohne dabei größere Gewebeschäden zu verursachen. Daher arbeiten wir daran, einen Hemmstoff von Stickstoffmonoxid in speziell für diesen Zweck entwickelte Nanopartikel zu verpacken. So wollen wir eine langsame und gezielte Freisetzung des Wirkstoffs vor Ort erreichen und häufige Injektionen ins Gelenk vermeiden.
Woher stammen die Knorpelzellen, an denen Sie diese Prozesse erforschen?
Wir arbeiten hauptsächlich an Zellen, die wir aus Gelenkersatz-OPs an der Charité erhalten – selbstverständlich mit der Einwilligung der jeweiligen Patientinnen und Patienten. Es ist sehr wichtig für uns, dass Betroffene ihr Gewebe für die Forschung spenden. Bei den Anfragen sind die meisten Patientinnen und Patienten sehr hilfsbereit – sie verstehen, dass es zwar zu spät ist, um ihr Gelenk zu retten, leisten aber gern einen Beitrag, damit die Forschung eines Tages eine gute Therapie gegen Arthrose findet.
Es gab bereits Versuche mit verschiedenen Medikamenten, die bei autoimmunen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis gut helfen. Leider funktionieren sie gegen Arthrose nicht annähernd so gut. Offenbar ist die Entzündungskomponente nicht so stark ausgeprägt. Zudem können auch vergleichsweise große Moleküle wie Biologika kaum bis in die tieferen Schichten des Knorpels vordringen.
Können Sie schon absehen, wann ein Medikament gegen Arthrose in Sicht ist?
Das lässt sich derzeit leider noch nicht sagen. Ich sehe aber, dass immer mehr Unternehmen und Forschungseinrichtungen sich intensiv mit dem Thema befassen und versuchen, zu verstehen, was bei Arthrose passiert. Auch unser Team leistet seinen Beitrag dazu. Wir hoffen, dass uns dabei ein Durchbruch gelingt, indem wir die Identifizierung der therapeutischen Zielstrukturen mit einer optimalen Anlieferung der Wirkstoffe kombinieren.