Superheldin im Rollstuhl
Zwei Frauen, zwei Erkrankungen, fast ein ganzes Land liegt zwischen ihnen – und doch verbindet eine tiefe Freundschaft Concetta Tatti und Maiken Brathe.
Eigentlich sollte sie einen roten Heldinnenumhang tragen, wenn sie in ihrem elektrischen Rollstuhl durch München flitzt, denn für mich ist Concetta mein Champion im Alltag. Wahrscheinlich denken das viele Menschen, die diese Powerfrau sehen. Es ist kaum zu fassen, dass so viel Lebensfreude in eine kleine Körpergröße von nur 1,46 Meter hineinpasst.
Ich lernte Concetta vor über 30 Jahren in einer Kinderrheumaklinik kennen. Ich war damals 16 Jahre alt und seit vielen Jahren an juveniler idiopathischer Arthritis erkrankt. Ich hatte in dieser Klinik wieder gehen gelernt und kämpfte wie alle großen und kleinen Patienten dort gegen das kindliche Heimweh. Concetta war gerade mal zehn Jahre alt und selbstbewusster, als ich es zu diesem Zeitpunkt war. Ihre Krankheit ist extrem selten: juvenile Dermatomyositis. Concetta ist permanent auf Hilfe angewiesen. Damals war ich sehr verunsichert, wie ich mit ihr umgehen sollte, denn es schmerzte, zu sehen, wie schlecht es ihr gesundheitlich ging. Gleichzeitig nervte sie mich fürchterlich, weil diese kleine Italienerin sich wie eine Klette an mich heftete und immer wissen wollte, was ich gerade machte, ob sie mich begleiten dürfte, ob wir etwas zusammen machen könnten...
Auch wenn ich manchmal die Augen rollte, wenn Concetta wieder vor mir stand, begriff ich zu dieser Zeit, dass dieses Mädchen etwas von mir suchte, was mir bisher niemand abverlangt hatte: Fürsorge für jemand anderen zu tragen. Wenn man selbst zuvor permanenter Mittelpunkt der Pflege war, war dies ein wichtiger Schritt für mich in Richtung Selbstständigkeit und Erwachsenwerden. Concetta stellte nie infrage, dass ich sie auffangen könne. Und es dauerte viele Jahre, bis ich begriff, dass ich das auch konnte.
Über 20 Jahre hatten wir keinen Kontakt, entwickelten uns unabhängig zu selbstbewussten Frauen, die es schafften, trotz starker Behinderungen und weiteren Erkrankungen ihre Ausbildungen zu beenden und ihren Platz im Leben zu finden. Und dennoch fehlte oft die Vertraute, die Eine, der man nicht erklären musste, wie traumatisierend Krankenhausaufenthalte waren, wie erniedrigend es sich anfühlte, als Objekt der Forschung in Hörsälen betrachtet worden zu sein und wie an manchen Tagen die Blicke der Passanten belasten, die einen anstarren, als wäre man eine Außerirdische. Oder wie sehr der Spott von Jugendlichen erschreckte, die einem unerwartet Schimpfworte hinterherriefen.
Als 2008 eine Nachricht von Concetta eintraf, sie organisiere ein Ehemaligentreffen der Rheumakinder unserer Station, musste ich weinen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht geglaubt, dass meine kleine nervige Freundin aufgrund ihrer schweren Erkrankung noch leben würde. Nach mehr als zwei Jahrzehnten standen wir uns endlich wieder gegenüber: diesmal auf Augenhöhe, trotz 26 Zentimeter, die uns an Köpergröße trennen.
Unser Wiedersehen hat mich sehr bewegt. Es war ein Schlüsselerlebnis für mich und offenbarte mir, was mir im Leben „unter Gesunden“ fehlt: der Austausch mit Menschen, die meine Erfahrungen teilen! Denen ich nicht erklären muss, warum ich an manchen Tagen eine Tür nicht öffnen kann und die mir beim Cafébesuch mit den gleichen krummen Fingern den Zucker reichen und dabei nicht kommentieren, dass Zucker ja bestimmt schädlich bei Rheuma sei und ich auf die Ernährung achten müsse. Das habe man gelesen und man meine es ja nur gut.
Nach dem Ehemaligentreffen schworen wir uns alle, in Kontakt zu bleiben. Und wie so oft kommt der Alltag dazwischen oder unzählige Kilometer, die einen trennen.
Zwischen Concetta und mir liegen mehr als 900 Kilometer. Und wir telefonieren beide nicht gerne. Ein Telefon zu halten, schmerzt in Händen und Ellenbogen. Und freies Sprechen erfordert die Möglichkeit, alleine zu sein, was bei einer pflegerischen 24-Stunden-Assistenz und einem überfürsorglichen Expartner fast eine logistische Meisterleistung sein kann. Und dann muss auch der Moment stimmen, in dem man nicht zu erschöpft ist, um sich auf die andere einzulassen. Wir haben einen anderen, perfekten Weg gefunden: Seit drei Jahren senden wir uns Sprachnachrichten per Smartphone. Jeden Tag erzählen wir uns Anekdoten, die wir im Alltag erleben, sitzen manchmal quasi zusammen am Esstisch, wenn wir uns alleine fühlen, und begleiten die andere mit unserer Nachricht bei ihrer Mahlzeit. Aber vor allem fangen wir uns auf, wenn eine von uns sich unverstanden fühlt oder die Angst vor Krankheit und Tod sich wie ein unsichtbarer, zähnefletschender Tiger im Raum bewegt. Concetta gegenüber kann ich diese Themen ansprechen, dem Tiger einen Kosenamen geben und ihn domestizieren. Wenn man die Angst benennen darf, verliert sie an Schrecken für mich. Anderen Menschen in meinem Umfeld gegenüber meide ich diese Themen. Manche Freunde sind überfordert, die meisten zeigen nur eine Betroffenheit, die sie sich zurückziehen lässt, weil sie mit dem Thema Krankheit nicht konfrontiert werden wollen.
Als Kind leistete meine Mutter mir mit einem sanft geflüsterten „Alles wird gut“ diesen Trost und nahm mir meine Todesangst. Dann wurde ich erwachsen und begriff, dass Mamas Worte nur eine Formel waren, weil sie nicht das Wissen besaß, die Lage zu beurteilen. Seit sechs Jahren ist meine Mutter tot, und auch wenn ich eine Frau in den 40er-Lebensjahren bin, fehlte mir die Vertraute, der ich nicht meinen Leidensweg als chronisch Kranke erklären muss.
Und nun ist meine kleine Freundin an meiner Seite, am anderen Ende des Landes: Heute hilft Concetta mir, die Sorgen zu bannen. Bereits beim Aussprechen meiner Ängste erfahre ich eine ungeheure Selbstreflektion, die mir hilft, meine Gedanken neu zu sortieren. Alleine durch das Formulieren erscheint vieles in einem anderen Licht und hilft mir, Emotionen von Tatsachen zu unterscheiden. Concetta ist eine Frau, die viel erlebt hat. Sie hat die Kompetenz und Erfahrungen, Tiger zu bezwingen, wägt mit mir alle Fakten ab, verhilft mir, einen objektiven Blick zu wahren. Sie tröstet mich nicht mit einem „Alles wird gut“, das seinen Zauber verloren hat. Aber in ihr habe ich die Vertraute, die sofort für mich da ist, mein Rettungsring, mein Erste-Hilfe-Set! Sie sagt mir: „Maiken, mach dich nicht verrückt, kläre es ab. Und in jedem Fall bin ich für dich da.“ Und das ist es, was ich in dem Moment brauche.
Concetta und ich sind Seelenzwillinge, eineiig, auch wenn uns ganz Deutschland trennt. Auch wenn sie optisch klein und ich eher groß bin, sie eine Südländerin ist und ich ein Nordlicht. Aber unsere Seelen haben sich in unserer Kindheit durch gemeinsame Erfahrungen verbandelt. Ich nenne sie „mein Tagebuch“, denn neben Ängsten hat sie meine Lebenssorgen mitgetragen: Trennung, Krankheit, Umzug, Neuanfang. Sie nennt mich ihr „Kortison“, von der sie täglich eine Dosis braucht, um beschwingt durch den Tag zu kommen. Zusammen haben wir einen Plan B fürs Leben entwickelt. Sprechen darüber in humoristischer Weise auf Instagram, teilen diese Gedanken mit anderen und zeigen, dass es immer einen Plan B im Leben gibt, selbst wenn man nicht glaubt, dass es weitergehen wird.
Für Concetta bin auch ich ein Champion im Alltag, eine Art Heldin, obwohl Rot mir nicht gut steht und ich immer noch denke, den Champion-Mantel sollte man in Größe S fertigen. Denn meine kleine Freundin ist so groß und überwältigend, sodass sie spielend leicht beängstigende Tiger bändigen und über 900 Kilometer überwinden kann.
MAIKEN BRATHE, 47, lebt nördlich von Hamburg. Sie hat Germanistik und Journalistik studiert und arbeitet als Autorin.