Müdigkeit ist ein Problem, das jeder anders empfindet. Viele Facetten haben mit „fatigue“ zu tun, so der englische Begriff, der sich in der Literatur durchgesetzt hat. Dazu gehören das Gefühl, ausgepowert zu sein, Burn-out, Antriebslosigkeit, ein Mangel an Energie, ein starkes Schlafbedürfnis, das Gefühl, morgens nicht ausgeschlafen zu sein, Depression, Angst, Schwäche, körperliche, psychische und soziale Funktionseinschränkungen im täglichen Leben, eingeschränktes Selbstbewusstsein, eine verminderte Lebensqualität, Abhängigkeit von anderen, Vereinsamung und viele weitere Dinge.
Müdigkeit variiert unabhängig von der Aktivität und Dauer der Rheumaerkrankung und beeinflusst alles: Gedanken, Gefühle, Verhalten gegenüber Familie, Arbeit und Freizeit. Müdigkeit erfordert viel Verständnis und soziale Unterstützung. In den Augen Nichtbetroffener und vieler Ärzte ist diese Müdigkeit unspezifisch und subjektiv, schwer zu beschreiben und kaum objektivierbar. Sie kann auch bei nicht-entzündlichen Rheumaerkrankungen auftreten, etwa bei Arthrose oder Fibromyalgie. Müdigkeit kann auch Teil und Folge lang anhaltender Schmerzen sein, erscheint aber nicht zwangsläufig und kann auch entstehen, wenn Schmerzen nicht im Vordergrund stehen.
Einfluss auf die Lebensqualität
Betroffene mit einer rheumatoiden Arthritis (RA) empfinden eine andere Form von Müdigkeit als Gesunde bei Schlafmangel oder nach körperlicher Belastung. Ihre krankhafte Müdigkeit ist für sie unvorhersehbar. Häufig ist sie im Winter ausgeprägter als im Sommer, und Frauen sind stärker betroffen. Aus der Sicht der Patienten beeinflusst die Müdigkeit ihre Lebensqualität zu 75 Prozent. Zum Vergleich: Der Schmerz hat einen Anteil von 90 Prozent, Funktionseinschränkungen von 58 Prozent. Nur 41 Prozent aller Betroffenen erreichen eine Remission, wenn sie die Müdigkeit nicht im Griff haben. Derzeit geht Müdigkeit noch nicht in internationale Kriterien der Remission bei RA ein. Das wird sich ändern müssen.
Müdigkeit ist nicht spezifisch mit Medikamenten zu behandeln, doch eine antientzündliche Therapie verbessert sie in etwas mehr als der Hälfte der Fälle. Bei 33 Prozent der Betroffenen bleibt die Müdigkeit trotz optimaler Therapie bestehen. Sie führt dazu, dass Ärzte die Krankheitsaktivität falsch einschätzen und unter Umständen Fehlentscheidungen treffen. Mediziner haben in den vergangenen Jahren herausgefunden, dass vor allem die Entzündung eine große Rolle spielt – und zwar unabhängig von ihrer Ursache: Entzündungsfördernde Botenstoffe (Zytokine) verstärken die Müdigkeit (zum Beispiel Interleukin-(IL-)6, IL-1, TNF- alpha, IL-8 und andere).
Entzündungshemmende Zytokine vermindern Müdigkeit dagegen – zu diesen Botenstoffen gehören zum Beispiel IL-4, IL-12. Bei einer rheumatischen Erkrankung ist die Zusammensetzung dieser Botenstoffe sowohl im Gehirn als auch im Blut verändert. Mediziner wissen heutzutage, dass diese Zytokine mit wichtigen Überträgersubstanzen im Gehirn interagieren. Zu diesen Überträgersubstanzen gehören zum Beispiel Dopamin und Serotonin, die unter anderem Impulse von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen.
Die Rolle der Hormone
Auch das Zusammenspiel der Hormone verändert sich bei Müdigkeit. Deshalb muss der Arzt zum Beispiel eine veränderte Schilddrüsenfunktion als Ursache ausschließen. Unter Umständen liegt eine verminderte Aktivität des Zusammenspiels zwischen einer speziellen Hirnregion (Hypothalamus), der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) und der Nebennierenrinde vor. Eine Folge davon kann sein, dass zu wenig Kortisol zur Verfügung steht. Unter Umständen reagiert der Körper aber auch nicht mehr angemessen auf diesen Botenstoff. Bei Müdigkeit sind das Gehirn und die Nervenzellen im Körper mit betroffen. Im Gehirn beispielsweise kommt es zu einer Aktivierung sogenannter Gliazellen, das sind Hilfszellen. Außerdem haben Forscher nachgewiesen, dass bei Müdigkeit etwa die Mitochondrien, landläufig auch „Energiefabriken der Zellen“ genannt, geschädigt sein können. Außerdem ist das Gleichgewicht von parasympathischem und sympathischem Nervensystem gestört.
Diese beiden Teile des Nervensystems arbeiten als Gegenspieler: Der Sympathikus aktiviert beispielsweise Herz und Kreislauf, während der Parasympathikus eine beruhigende Wirkung hat. Man kann den Vagusnerv, den größten Nerv des Parasympathikus, elektrisch stimulieren – und beobachtet dann unter anderem eine antientzündliche Wirkung. Ähnliche Mechanismen spielen bei ganz unterschiedlichen Erkrankungen eine Rolle – darunter nicht nur die entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, sondern auch Krebs, chronische Infektionen wie HIV, Depression, Fibromyalgie und das CFS (Chronic Fatigue Syndrome, das chronische Müdigkeitssyndrom). Bei chronischen Schmerzpatienten spielen sehr ähnliche Übertragungswege im Gehirn eine Rolle. Kein Wunder, dass Schmerzen und Müdigkeit sehr eng verbunden sind.
Spurensuche im Gehirn
Ähnlich wie bei chronischen Schmerzen hinterlässt chronische Müdigkeit Spuren im Gehirn. Ärzte können diese mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) und mit anderen bildgebenden Verfahren sichtbar machen. Dabei stoßen sie beispielsweise auf einen Gewebeschwund in bestimmten Hirnarealen, sehen eine verminderte Durchblutung und einen reduzierten Energiestoffwechsel der Nervenzellen. Nervenzellen sterben und werden durch Bindegewebszellen ersetzt – das nennt man Gliose. Auch Medikamente können als Nebenwirkung Müdigkeit verstärken, etwa Psychopharmaka. Früher galten Blutarmut (Anämie) und Eisenmangel bei Betroffenen mit einer rheumatischen Erkrankung häufig als Ursache. Doch selbst durch Bluttransfusionen und Eisentabletten änderte sich nichts für die Betroffenen – die Müdigkeit blieb.
Individuelle Therapie finden
Angesichts der vielen Ursachen wird klar, dass es nicht die Therapie der Müdigkeit geben kann. Jede Behandlung muss individuell erfolgen, Arzt und Betroffener jeden Aspekt gesondert betrachten und, wenn möglich, behandeln. Es gilt, mehrere Bereiche im Blick zu halten, etwa regelmäßige Bewegung, Fitnesstraining, psychische Belastungen, Eingliederung der Betroffenen in ein soziales Umfeld. Ähnlich wie bei der Therapie chronischer Schmerzen ist dazu meist ein multidisziplinäres Team von Therapeuten erforderlich. Die Selbsthilfe hat dabei eine wesentliche Aufgabe und kann Betroffene informieren und in der Gruppe motivieren.
Der erste Schritt bei jedem Therapieansatz ist die Diagnose und Therapie einer möglichen, ursächlichen Erkrankung, darunter sind die Fachbereiche Orthopädie, Endokrinologie und gegebenenfalls Onkologie, Psychiatrie et cetera zu beachten. Es gilt, die antientzündliche Therapie der rheumatischen Grunderkrankung zu optimieren. Auch die Rheuma-Liga kann dazu beitragen mit ihren Möglichkeiten zur Begegnung, Bewegung, Beratung, Schulung sowie zum Selbstmanagement. Mit dieser Unterstützung kann jeder Betroffene eigene Erfahrungen machen und seinen Weg finden.
Nachweisbare Folgen der verstärkten Müdigkeit
- Das Gefühl von deutlicher Einschränkung der Lebensqualität und des Selbstwertgefühls, unter Umständen Beeinflussung der gesamten Lebensplanung.
- Der interpersonelle Stress (Gereiztheit in Familie, Arbeit, Freizeit) steigt.
- Ein Teufelskreis: Mehr Schmerzen führen zu mehr Angst/Depression, reduzieren die körperliche Aktivität, was die Schmerzen verstärkt.
- Ein schlechterer Verlauf der Rheumaerkrankung, geringere Wirksamkeit der Therapien.
Checkliste Müdigkeit
- Ist die rheumatische Entzündung optimal therapiert?
- Kommen Nebenwirkungen von Medikamenten infrage?
- Gibt es organische Ursachen (Herz, Schilddrüse, Niere, Nebenniere, Darm, Haut, Auge, Nervensystem)
- Kann eine Krebserkrankung ausgeschlossen werden?
- Liegt eine Depression vor?
- Gibt es außergewöhnliche psychische Belastungen?
- Stimmen Blutwerte wie Hämoglobin, Eisen?
- Wie hoch ist der Vitamin-D-Spiegel?
- Liegt eine Schlafstörung vor?
- Liegt Übergewicht vor?
- Ernährt sich der Betroffene gesund?
- Wie hoch ist das Bewegungspensum?
- Wie ist die soziale Einbindung des Betroffenen?
Über den Autor
Text von: Prof. Stefan Schewe (internistischer Rheumatologe in München und Ebersberg, Vorstandsmitglied und ärztlicher Berater der mobil)