Selbst Grundgesunde kennen das: In hektischen Zeiten meldet sich der Körper mit Bauchschmerzen, Verspannungen, Hautausschlägen, Schlafstörungen, Schwindelattacken, Konzentrationsproblemen oder schwindender Libido. Dafür sind unter anderem Veränderungen im Hormonhaushalt verantwortlich, die mit anhaltendem, belastendem Stress einhergehen.
Dr. Martin Welcker, niedergelassener Rheumatologe in Planegg bei München, ergänzt: „Bei anhaltendem Stress liegt eine erhöhte Muskelspannung vor. Das führt zu erhöhter Schmerzhaftigkeit von Muskeln, Kapseln, Bändern und Gelenken. Dauerhafter Stress bedeutet mehr Belastung. Die Muskulatur wird härter und verspannter.“
Durch diese Kombination können sich ohnehin vorhandene Beschwerden verschlimmern. Dazu kommt die seelische Verfassung: Wer sich dauerhaft überlastet fühlt, empfindet Symptome als gravierender und erträgt Schmerzen und Einschränkungen schlechter. Das erzeugt neuen Stress. Eine unselige Spirale.
Kampf – oder Flucht?
Die Diplom-Psychologin Sonia Sippel von der Rehaklinik im Ambulanten Rehazentrum Wöhrderwiese in Nürnberg formuliert es so: „Sobald ich etwas als stressig empfinde, reagieren mein Körper und Geist so, als würde vor mir ein Säbelzahntiger stehen. Ich werde also auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Meine Muskeln spannen sich dafür an, Energie wird bereitgestellt, der Blutdruck fährt hoch und so weiter. Eine ganze Kaskade aus Reaktionen.“
Passiert das hin und wieder mal, besteht kein Grund zur Sorge. Doch geschieht dies immer wieder ohne ausreichende Erholung, sinkt mit der Zeit die Belastungsgrenze. „Ich werde anfälliger für Stress, schon kleine Stressoren reichen aus, um starke Reaktionen auszulösen. Irgendwann kann sogar als Folge meine Entspannungsfähigkeit abnehmen.“
Nicht jeder Stress ist Gift
Fakt ist: Es gibt auch Herausforderungen, die viele Veränderungen verursachen, aber trotzdem nur selten zu Stresssymptomen führen. Fast jeder kennt das Hochgefühl, das frisch geknüpfte Freundschaften, die Geburt eines Kindes oder ein beruflicher Neubeginn mit sich bringen können – trotz Schlafmangels und durchgetakteter Tage. Solche positiven Erlebnisse können Krankheitssymptome tatsächlich lindern, informiert Welcker – „und in positiver Gesellschaft ist man gesünder und leistungsfähiger“.
Doch kein Leben verläuft ohne negative und herausfordernde Situationen wie Unterforderung oder Überforderung im Beruf, Unfall, Verlust geliebter Menschen. Obenauf kommt bei rheumatischen Erkrankungen alles, was die Diagnose mit sich bringt.
„Rund jeder Zweite mit einer rheumatischen Erkrankung, der zu mir kommt, berichtet, Stress zu haben“, betont der Psychologe Dr. Matthias Englbrecht aus Eckental bei Erlangen. Er kooperiert mit Dr. Martin Welcker in verschiedenen Projekten und ist als psychologischer Coach tätig. Er räumt ein, natürlich nur einen Teil der Patienten kennenzulernen – jenen, der für psychologische Unterstützung offen ist. Doch grundsätzlich, betont Englbrecht, bedeutet die Krankheit immer eine zusätzliche Belastung. Anzuerkennen, dass man sich gestresst fühlt, kann Dr. Matthias Englbrecht zufolge schon ein erster Schritt aus dem Teufelskreis sein.
Denn die Achtsamkeit für das eigene Befinden und die eigenen Bedürfnisse sind der Schlüssel, um gerade in stressigen Zeiten das eigene Wohlergehen im Blick zu behalten und aktiv dazu beizutragen. Achtsamer und selbstfürsorglich Dr. Matthias Englbrecht empfiehlt, im Falle der gefühlten Überlastung ein Stresstagebuch zu führen. Darin wird notiert, was genau das Gefühl auslöst, alles werde zu viel. Termine, Aufgaben, Menschen, Situationen. „So lernen Sie die eigenen Stressmuster kennen, können gezielt Gegenmaßnahmen einleiten oder auch Verpflichtungen streichen“, empfiehlt Englbrecht.
Dr. Martin Welcker legt seinen Patienten grundsätzlich ans Herz, der Krankheit ihren Raum zuzugestehen. „In der aktiven Phase haben Sie einen Nebenjob. Jedem muss klar sein, dass die Erkrankung eine zusätzliche Belastung zu den allgemeinen Lebensfragen ist.“ Darauf gelte es, Rücksicht zu nehmen – und diese Rücksicht von anderen einzufordern. Sonia Sippel formuliert es so: „Es gibt in der Psychologie den Begriff der Selbstfürsorge. Selbstfürsorge ist die Fähigkeit, mit sich gut umzugehen, sich zu schützen, die eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Das fängt damit an, sich dafür Zeit zu nehmen. Sich um sich selbst wie um eine gute Freundin zu kümmern. Wenn es Ihnen gerade nicht gut geht, zum Beispiel während eines Schubs, sollten Sie sich besonders liebevoll um sich kümmern!“
Langfristige Strategien
Doch auch ohne Schub sollte jeder Mensch – auch ohne chronische Erkrankung – Zeit für sich selbst einplanen. Welcker und Englbrecht empfehlen, sogenannte Ich-Zeiten, geplante Auszeiten zur Regeneration, in den Alltag zu integrieren.
Dr. Martin Welcker konkretisiert: „Nehmen Sie sich einen Kalender und tragen Sie sich Zeiten für sich ein – genau wie Job- oder Arzttermine. Sagen Sie sich: Wenn Sie jetzt solche Termine nicht machen, können Sie irgendwann im Beruf keine Termine mehr machen oder anderen nicht mehr helfen!“
Drei bis fünf solcher Ich-Zeiten pro Woche à mindestens 15 bis 20 Minuten sind ideal. Aber nicht im Internet surfend oder vorm Fernseher – stattdessen gefüllt mit Übungen oder Ritualen, die Verspannungen und Stresshormone abzubauen helfen.
Ein Spaziergang ins Grüne, ein paar Yogaübungen, eine Atemmeditation oder die Augen schließen und angenehme Erinnerungen Revue passieren lassen: Die Auswahl ist groß. Stärkend wirkt laut Sonia Sippel auch, sich der eigenen Ressourcen bewusst zu werden und sich zu vergegenwärtigen: „Welche Krisen habe ich bereits gemeistert? Wer oder was in meinem Leben gibt mir Kraft?“ Dabei hilft es, den eigenen Alltag bewusster zu betrachten: „Versuchen Sie, sich nicht nur über große Sachen zu freuen, die selten vorkommen, wie zum Beispiel Urlaub. Entdecken Sie lieber auch Positives im Alltag.“