Stress ist eine individuelle Empfindung – und es gibt zahlreiche Strategien, die helfen können, in schwierigen Situationen gelassener zu bleiben. Julia Bidder, Chefredakteurin der Mitgliederzeitschrift "mobil" sprach dazu mit der Gesundheitspsychologin Prof. Christel Salewski.
Frau Prof. Salewski, empfinden Sie auch manchmal Stress?
Natürlich! Stress ist eine grundlegende menschliche Erfahrung. Wir wären nicht lebensfähig, ohne hin und wieder Belastungen zu erfahren. Nur so sind Wachstum und Entwicklung möglich.
Wie definieren Sie Stress?
Heutzutage geht die Forschung davon aus, dass Stress eine Wechselwirkung ist zwischen einer Person und ihren Umweltbedingungen. Stress entsteht, wenn Personen mit bestimmten Gegebenheiten oder Situationen konfrontiert werden, die ihre eigenen Bewältigungsmöglichkeiten in diesem Moment übersteigen. Forscher sprechen auch von einem transaktionalem Verständnis. Demnach kann eine identische Situation für unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Bewertungen führen.
Nehmen wir zum Beispiel eine Prüfungssituation: Eine Person hat sich gut vorbereitet und viel gelernt. Sie empfindet die Prüfung als Herausforderung, von der sie sich aber ziemlich sicher ist, dass sie sie meistern kann. Sie geht relativ gelassen in die Situation und verbucht sie später als positive Erfahrung, die sie stärker macht.
Eine andere Person hat vielleicht weniger gelernt und ist unsicherer. Sie wird die Prüfung möglicherweise als Bedrohung wahrnehmen und Angst sowie Stress empfinden. Vielleicht wird sie die Prüfung nicht bestehen und noch mehr Stress empfinden. Oder eine Situation im Stau: Eine Person wird panisch, weil sie das Zuspätkommen fürchtet, und bekommt Herzrasen und Bluthochdruck.
Eine andere Person entspannt sich und schaltet vielleicht das Autoradio mit der Lieblingsmusik ein. Früher haben Psychologen auch von einer positiven Stressform gesprochen, dem sogenannten Eustress, der auch beflügeln kann.
Was sagt die Wissenschaft heute dazu?
Von dieser Sichtweise hat man sich abgekehrt, denn eine Stressquelle kann man nicht eindeutig bewerten. Das erlebt jeder Mensch ganz individuell, wie die Beispiele vom Stau und von der Prüfung zeigen. Tatsächlich haben Psychologen versucht, eine Liste zu erstellen, welche kritische Lebensereignisse viele Veränderungen hervorrufen und damit eine potenzielle Quelle für Stress darstellen.
Auf dieser Liste fanden sich zum Beispiel der Tod eines nahen Angehörigen oder die Diagnose einer chronischen Erkrankung, aber auch oft als positiv wahrgenommene Ereignisse wie Umzug, Hochzeit oder die Geburt eines Kindes. Entscheidend ist das Ausmaß der Veränderungen, die mit dem Ereignis einhergehen. Das Risiko dafür, dass eine Person Stress empfindet, ist umso größer, wenn viele Veränderungen auf einmal über jemanden hereinbrechen.
Warum sollte ich mich mit dem Thema Stressmanagement auseinandersetzen, wenn ich mich häufig gestresst fühle?
Weil ich damit gewissermaßen verschiedene Werkzeuge erwerbe, die mir helfen, dass ich Stress auslösenden Situationen unterschiedliche Strategien entgegensetzen kann. Das kann dazu beitragen, dass ich eine Situation nicht mehr als Bedrohung empfinde, sondern eher als Herausforderung erlebe.
Je mehr Strategien ich mir für den Umgang mit schwierigen Situationen aneigne, desto besser bin ich gerüstet. Im Grunde handelt es sich um eine Waage: Was wiegt schwerer, die Bedrohung durch die Situation oder die Waagschale mit meinem Repertoire an Bewältigungsstrategien? Natürlich kann es passieren, dass jemand ein multimodales Stressbewältigungstraining absolviert und sagt: Das kannte ich alles schon.
Aber die meisten Menschen werden sicherlich noch das ein oder andere dazulernen oder bestimmte Strategien noch besser anwenden können. Und nicht jede Strategie eignet sich gleich gut für jede Situation oder für jeden Menschen. Allerdings muss man einschränkend sagen, dass auch ein solches Training niemanden zu einem „Bewältigungsroboter“ macht, der in absolut jeder Situation gelassen bleibt. Aber man erlernt hilfreiche Strategien, die dazu beitragen, dass man einer Herausforderung mehr entgegensetzen kann.
Welche Rolle spielen Entspannungsübungen bei diesem Training?
Grundsätzlich helfen Entspannungsübungen dabei, besser in Balance zu bleiben. Sie schulen zum Beispiel die Achtsamkeit. Wenn ich in einer anstrengenden Situation merke, dass sich etwas in mir verkrampft oder mein Magen sich meldet, wenn ich überfordert bin, ist das eine wichtige Wahrnehmung – und im idealen Fall führt diese Wahrnehmung dazu, dass ich gezielt eine Übung mache oder eine wirksame Bewältigungsstrategie anwende.
Welche Strategien können mir dabei helfen, eine schwierige Situation zu meistern?
Eine Übung ist das sogenannte Rauszoomen: Dabei stelle ich mir vor, dass ich die Situation von oben betrachte – vielleicht erst nur aus zwei oder drei Metern Höhe, dann immer mehr, bis ich zum Beispiel die Auseinandersetzung oder die belastende Situation nur noch wie winzige Spielzeuge von oben betrachten kann.
Eine andere Strategie besteht darin, mir vorzustellen, wie ich die Situation in zehn Jahren bewerte oder wie ich darüber denken würde, wenn mir jemand genau die Lage, in der ich jetzt stecke, schildern würde. Ist der Konflikt mit dem Kollegen etwas, was ich dann noch überhaupt erinnere? Diese Strategien zielen darauf ab, eine emotionale Distanzierung aufbauen und zumindest zeitweise die Lage neutraler betrachten zu können. Das kann zu einer anderen Betrachtungsweise führen.
Eine andere Strategie besteht darin, mir zu verdeutlichen, dass das Leben kein Standbild ist, das mich für immer in dieser schwierigen Situation einfriert. Das Leben ist ein Film, und es geht immer weiter.
Nehmen wir mal ganz konkret einen kleinen Eingriff, vor dem ich Angst habe. Wie kann ich mich auf eine solche Situation vorbereiten, und was kann ich zum Beispiel währenddessen tun?
Als Vorbereitung kann ich mir bewusst machen, welche Stärken ich habe und auf welche hilfreichen Strategien ich zurückgreifen kann, um die Situation zu bewältigen. Ich kann mir zum Beispiel bewusst machen, dass ich alle bisherigen Eingriffe und vergleichbaren Situationen durchgestanden habe.
Ich könnte überlegen, mir emotionalen Beistand mitzunehmen, also zum Beispiel eine nahestehende Person mitnehmen. Und ich darf mich natürlich auch belohnen, wenn ich die Situation durchgestanden habe! Allein das Wissen, dass ich vielfältige schwierige Situationen meistern kann, ist eine wichtige Ressource. Wir sprechen dann von Selbstwirksamkeit: Ich habe das Gefühl, immer Herr der Situation zu sein.
Das sagt sich leicht, aber Patienten finden sich häufig in einer passiven Rolle wieder.
Tatsächlich kann man sich nicht jede Situation beliebig zurechtbiegen, damit sie irgendwie schön wird. Das gilt natürlich gerade in Bezug auf chronische Erkrankungen. Es ist wichtig für chronisch kranke Menschen, dass sie sich selbst zugestehen, dass es Situationen gibt, die sie selbst nicht verbessern können – sonst ist großer Frust programmiert, weil manche Dinge einfach nicht gehen können.
In diesen Fällen ist das grundsätzliche Herangehen entscheidend: An welchen Stellen habe ich Handlungsmöglichkeiten, an welchen Stellen ist es nicht möglich, selbst die Kontrolle zu haben! Wenn zum Beispiel eine schwere Operation ansteht, hilft in erster Linie Ablenkung: Einfach so wenig wie möglich daran denken! Schließlich hat man keine Möglichkeit, den Verlauf der Operation selbst zu beeinflussen. Aber um zurück auf die Prüfungssituation zu kommen: In dieser Lage hilft Ablenken überhaupt nicht. Bis auf Entspannung. Es ist tatsächlich nie verkehrt, eine Entspannungsübung zu machen, egal, in welcher Situation.
Dieser Text erschien zuerst in der Mitgliederzeitschrift "mobil", Ausgabe 6-2022. Sechs Mal im Jahr erhalten Mitglieder der Deutschen Rheuma-Liga die Zeitschrift kostenlos direkt nach Hause (jetzt Mitglied werden).